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Eigentlich kann ich nicht schweigen

Eigentlich mache ich gerade Pause.

Eigentlich will ich weniger solcher Artikel schreiben.

Eigentlich habe ich das Gefühl, dass alles gesagt und geschrieben ist.

Dennoch sitze ich hier und schreibe. Was passiert ist? Der «Prämienschock», und die Reaktionen darauf, das ist passiert. Und eigentlich wollte ich dieses Mal einfach beobachten. Was ich sehe? Ich sehe unzählige Diskussionen, darüber, wie im Gesundheitswesen gespart werden soll. Es werden Expert*innen befragt, Politiker*innen hauen ihre Ideen und Statement heraus, Journalist*innen geben ihre Kommentare ab, und die Pflege bleibt still. Die eine oder der andere mag jetzt fragen: Ja, was soll die auch dazu sagen? Dabei vergessen sie eines: Alle Massnahmen, die jetzt besprochen werden, haben einen direkten Einfluss auf unsere Arbeit. Genau deshalb bin ich der Meinung, dass wir in der öffentlichen Diskussion teilhaben sollen. Was ich hiermit tue. In diesem Text möchte ich erklären, was für Auswirkungen die diskutierten Massnahmen auf die Pflege haben können und meine Gedanken dazu mit Euch teilen.

 

Die obligatorische Krankenkasse abschaffen

Beginnen wir mit dem kontroversesten Vorschlag. In einem Punkt gehe ich mit der Urheberin dieser Idee einig: Um wirklich etwas zu verändern, müssen wir ausserhalb der Box denken. Da hört unsere Einigkeit aber schon auf. Denn die allererste Frage, die ich $ habe ist: Und was, wenn jemand ohne Krankenkasse eine Behandlung braucht, die er nicht bezahlen kann? Lassen wir diese Menschen dann im Stich? Lassen wir sie leiden oder sogar sterben? Ich frage das, weil ich und meine Kolleg*innen es sein werden, die genau diesen Menschen gegenüber stehen. Ich frage das, weil es die Ärzt*innen sein werden, die diesen Menschen erklären müssen, dass sie nichts mehr für sie tun dürfen. Ärzt*innen, mit denen ich arbeite, die ich kenne.


 

 

Spitäler zentralisieren

Darüber wird schon lange gesprochen und einiges ist da ja auch schon passiert. Einiges davon, ist wohl auch sinnvoll. Ich sehe da aber auch Gefahren. Es gibt Situationen, in denen die Erreichbarkeit des nächsten Spitals entscheidend ist. Bei einem Schlaganfall beispielsweise. Aber auch bei einer Geburt kann es plötzlich brenzlig werden. Für Frau und Kind. Zentrumspitäler sind gross, mitunter unübersichtlich, einige nennen sie unpersönlich. «Fabriken», heisst es manchmal auch. Nicht alle Pflegefachpersonen können oder wollen an einem solchen Ort arbeiten. Im Angesicht des Fachkräftemangels können wir es uns als Gesellschaft nicht leisten, noch mehr Pflegende zu verlieren.

 

Behandlungen einschränken

Wer alt ist, soll der Gesellschaft nicht mehr allzu sehr auf der Tasche liegen und nicht mehr alle Behandlungen erhalten. Es entscheidet also nicht mehr der/die Patient*in sondern… Ja, wer? Die Krankenkasse? Das Behandlungsteam? Die Angehörigen? Mir wird es vor allem bei diesem Punkt ganz flau im Magen. Der Schritt zur Euthanasie ist da nicht mehr weit. Gerade dieser Punkt, wird mich ganz direkt betreffen. Nicht behandelt werden, heisst unter Umständen sterben. Und es heisst leiden. Das wird vor meinen Augen passieren. Diese Menschen und ihre Angehörigen werden mir auf der Station begegnen. Ich werde eine von denen sein, die diesen unfreiwilligen Weg mit ihnen gehen müssen. Für mich die absolute rote Linie. Ich wiederhole: Für ein solches Gesundheitswesen stehe ich nicht zur Verfügung.

 

Behandlung von Ausländer*innen/ Flüchtlingen einschränken

«Die Ausländer*innen/ Flüchtlinge sind schuld an den hohen Kosten am Gesundheitswesen», Dies ist die Kurzzusammenfassung eines Statements einer bestimmten Partei, welches sie gebetsmühlenartig wiederholt. Für diese Partei, sind Ausländer*innen und Flüchtlinge sowieso für alles verantwortlich, was schief läuft. Da es sich genau genommen um einen Unterpunkt vom letzten handelt, fasse ich mich kurz. Für mich als Pflegende, sind alle Menschen gleich. Für mich als Pflegende, haben alle Menschen ein Recht auf Behandlung. Für ein Gesundheitswesen, welches Menschen unterschiedlich behandelt, stehe ich ebenfalls nicht zur Verfügung.

 

Den Zugang zu ärztlicher Behandlung einschränken

«Die Leute sollen nicht für jedes Bobo zum Arzt.» So oder so ähnlich wurde es in den letzten Tagen immer wieder gesagt und geschrieben. Aber was ist denn ein «Bobo»? Und wie sollen die Menschen das denn wissen? Ich selbst beobachte immer wieder, wie wenig Ahnung die Menschen von den körperlichen Abläufen haben. Wie wenig sie von Pathologie wissen. Ich erlebe Menschen, die sofort in Alarmbereitschaft sind, wenn etwas von ihrer Norm abweicht. Und ebenso erlebe ich Menschen, die finden: Blut erbrechen, Hand, Fuss oder so nicht mehr bewegen können, alles kein Problem. Und genau da, kann angesetzt werden. Prävention, Beratung, niederschwellige Angebote, gezielte Triage sind da die Schlagworte. Genau da ist das Berufsbild der APN (Advance Practice Nurse) angesiedelt, die in Anlehnung an die frühere Gemeindeschwester vieles übernehmen könnte. Doch dazu müssen die Grundlagen geschaffen und genutzt werden, dass diese auch unabhängig arbeiten können.

 

Eigentlich wollte ich zu alle dem nichts sagen.

Eigentlich wollte ich diesmal schweigen, weil ich denke, dass ich das alles schon so oft gesagt habe.

Dennoch gibt es jetzt diesen Artikel.

Es gibt ihn, weil ich nicht einfach schweigend zusehen kann, wie Politiker*innen, Journalist*innen und Expert*innen ihre Weisheiten von sich geben, ohne zu bemerken, dass unser Gesundheitswesen gerade an die Wand fährt. Das zu ignorieren, während über Sparmassnahmen diskutiert wird, ist eine Frechheit gegenüber allen, die dieses Gesundheitswesen noch aufrechterhalten. In unserem Gesundheitswesen ist Einiges im Argen, und alle die Massnahmen, werden völlig nutzlos sein, wenn nicht endlich das grosse Ganze betrachtet wird.

Patricia Tschannen, Pflegefachfrau HF

 

 

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Kommentare: 5
  • #1

    Brigitte Larcher (Freitag, 06 Oktober 2023 08:46)

    Danke

  • #2

    Ursina Padrun (Freitag, 06 Oktober 2023)

    Danke vielmals für diesen tollen Artikel. ��

  • #3

    Maja Trepp (Samstag, 07 Oktober 2023 11:13)

    Liebe Frau Tschannen
    Danke für diesen prägnanten Artikel. Gott sei dank haben Sie sich überwinden können, diesen abzufassen. Sie bringen die Tatsachen auf den Punkt. Ein ganz grosses Dankeschön.
    Auch wenn ich nachvollziehen kann, dass Sie eigentlich schweigen wollten, weil Sie dies schon des öftern gesagt haben. Für mich ist schön zu sehen, dass Sie trotz grosser Frustration noch klar realisieren, wann schweigen falsch ist. Ich ziehe den Hut vor Ihnen und Ihrer humanen Ader!

  • #4

    Lorena (Montag, 09 Oktober 2023 09:12)

    Liebe Patricia,
    Vielen herzlichen Dank für diese eindrücklichen und absolut treffenden Zeilen. Du hast es wieder einmal geschafft, mit wenigen Worten alles zu sagen & auf den Punkt zu bringen! DANKE!

  • #5

    Therese Grossenbacher (Montag, 23 Oktober 2023 16:08)

    Vielen Dank Patricia für diesen Artikel.
    Wenn wir schon neu denken, dann in allen Bereichen des Gesundheitswesens. Jede Instanz die sich mit dem Gesundheitswesen ihren Lebensunterhalt verdient, muss da berücksichtigt werden. Da sind Verwaltung, Hotellerie, Logistik, Technik, IT, Krankenkassen, Berechnungssysteme, usw. ebenso aufgefordert über Massnahmen, Erneuerungen, Einsparungen nachzudenken, damit wir an der Basis, dh. am Patientenbett nicht Qualitätseinbussen erleben. Der heute überdimensionierte Bereich um die Basisarbeit herum verschlingt Unsummen von finanziellen Mitteln, welche in der direktem Arbeit mit Patienten/Bewohnern benötigt wird.
    Wenn wir schon dabei sind, benötigt es komplizierte Einstufungssysteme um die Bedürftigkeit von alten Menschen einzustufen um die Behandlung abgegolten zu erhalten? Hier müssen Betriebe, Krankenkassen, Aerzte, enorme Summen immer wieder in Bildung, Kontrolle investieren um die Behandlung zu rechtfertigen ob es in der Praxis am Patienten so erfolgt ist oder nicht. Hier würde sich „Neudenken“anbieten. Es gibt noch viele solcher Beispiele, die auf „ den Tisch“ müssten, um wirkliche, wirksame Massnahmen anzugehen.
    Nehmen wir uns als Berufsgruppen ernst und arbeiten mit in Verbänden, Gremien, Ideen-Pools und bringen unsere Erfahrungen und unser Wissen aus der täglichen Arbeit mit Patientinnen und Patienten an die Politik und die Entscheidungstragenden heran!